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Montag, 23. Juli 2018
Herr Schaluppke und der Regionalexpress ans Meer (directors blog cut)
Die Leute sagen, der Regionalexpress hält an jeder Milchkanne, dachte Horst Schaluppke und stieg in den RE18 Schrägstrich 2, ohne es zu bemerken.
Das war nun vielleicht gar nicht so einfach, denn schließlich bemerkte Schaluppkes Gehirn sonst häufig viel zu viel.
Und genauso vielleicht hatte es ihn die ein oder andere Übung gekostet, um nun so von sich selbst unbemerkt in diesen Milchkannenexpress gen Norden zu steigen.
Eigentlich wäre er nämlich sonst auch viel lieber mit dem Auto gefahren.
Schaluppke fuhr gerne Auto - vor allem dort, wo das Land platt und weit war.
Das war gut für seine Gedanken, denn die waren dann manchmal einfach nicht da, und er konnte wieder spüren, wie es sich wohl ganz gut aushalten ließe.
Seit seinem Ausfall vor einigen Jahren hatte sich diese Gefühl ansonsten ziemlich verdünnisiert.
Horst Schaluppke war noch nie ein Karrieretyp, wie die Leute sagen würden, die sonst von Milchkannen sprechen.
Wohl ein Kämpfer, ganz gut im Durchhalten.
Aber auch das würden diese Leute heute nicht mehr über ihn sagen, weil man ja mit der Zeit vergisst, was es so durchzuhalten gab.
Vor allem, wenn nichts gesellschaftlich Durchhaltewürdiges mehr hinzukommt.
Schaluppke hatte dennoch mindestens einmal zu viel durchgehalten.
Und dabei hatte er, soweit er es wusste, doch nur das getan, was ehrliche Arbeiter so tun müssen: Einfach alles, was ein Chef so verlangt, dann kommste schon weiter.
Wie gut also, dass Horst Schaluppke nun mit Einsteigen beschäftigt war.
Man musste sich ja auch nicht unnötig an Zeiten erinnern, die höchstens Schaluppkes ehemaligem Chef gefallen haben konnten und aus denen jener durchhaltende junge Mann neben einer formschönen Kündigung auch ein paar panische Züge und depressive Entgleisungen gratis mit nach Hause nehmen durfte.
Seitdem war er arbeitslos, wie die Milchkannenleute sagen.
Erst konnte es so nicht weiter gehen, hatte sein Arzt gesagt, dann konnte er nicht weitergehen.
Dann sagte die verständnisvolle Dame vom Arbeitsamt, dass er so nicht weitergehen sollte und rief noch ein paar Ärzte an.
Schaluppke wurde vermessen und gewogen und befragt. Klingt harmlos, machte dem sonst so strebsamen Durchhalter aber Angst.
Dann stellte man fest, dass dieses Durchhalten irgendwie nicht so gut für seine Gesamtkonstitution gewesen sein konnte und so war er bald ein Mann im besten Alter und besaß einen Rentenausweis.
Schaluppke heftete den kleinen Zettel sorgfältig ab. Er hatte nicht vor, dieses Dokument jemals zu benutzen.
So half es ihm auch heute weder bei der Fahrpreisermäßigung, noch beim Zusteigen oder sich Bekanntmachen. Er fühlte den Stempel nicht.
Eigentlich fast genauso, wie er den Arbeitslosenstempel nicht fühlte,
denn Horst Schaluppke war nicht arbeitslos, er ging nur keiner geregelten Beschäftigung nach.
An und für sich arbeitete er nämlich durchaus - das konnte man von aussen halt nicht sehr messbar beobachten. Andererseits konnte man es auch nicht mit Geld aufwiegen, dass Horst Schaluppke heute so vorbehaltlos und ohne aufwendige Gedanken und Emotionen ein öffentliches Verkehrsmittel bestieg.
Während die Menschen, Nachbarn und auch diese Verwandten von Jahr zu Jahr unruhiger hinter ihren Gardinen tuschelten, wie Schaluppke sich ein Leben mit Häuschen, Auto und überhaupt finanzieren konnte, schraubte und hämmerte der an jenen vier Wänden und Rädern wacker weiter, damit nicht alles aus den Fugen geriet.
So als eigener Herr über den Tag gings eigentlich, dachte er sich hier und da.
Bloß mit der Bezahlung ist das so ne Sache, dachte ein anderer Teil Schaluppkes, der mit der Zeit unter den doch schiefer werdenden Fugen immer lauter zu werden schien.
Da zählte auch nicht, dass sein Auto alt und nicht sehr wertvoll war. Nach aussen hin war es nämlich so gut in Schuss wie Herr Schaluppke, wenn er fröhlich glänzend Nachbarn grüßte.
"Die Leute" konnten die Zeit nicht mehr sehen, die er mit Staub vorm Mund unter seinem Fahrzeug flexte, als gäbe es kein Morgen mehr. Weiter rostend.
Er hatte ja Zeit dafür, da könnte das Jeder.
Das glaubte irgendwann auch dieser andere Teil von Horst Schaluppke. Inzwischen konnte er viel, aber nichts so richtig. Wahrscheinlich jedoch konnte er viel mehr, als er selbst glaubte, aber er hatte kein Gefühl mehr dafür.
Er fühlte auch beinahe nicht mehr, dass da noch irgendjemand war, der von oben auf ihn aufpasste.
Ist ja nicht so, dass Schaluppke ein unglaublich ungläubiger Mann gewesen wäre -
er hatte nur die Erfahrung gemacht, dass er am Ende doch irgendwie allein war.
Allein mit dem Chef, den Kunden, den Reifenstapeln, allein mit seiner Angst, etwas richtig falsch zu machen, allein mit der Frage, wann es nun eigentlich genug wäre und wann nicht.
Und weil man den Betriebsdruck vom heiligen Geist nicht in Bar messen kann,
kam ihm auch niemand zur Hilfe. Das war Schaluppkes Sache.
Er war allein mit seiner Sorgfalt, der allgemeinen Hochschulreife und diesem eigentlich unbändigen Willen, es irgendwie auszuhalten und dabei doch hoffentlich besser zu werden.
Zum Schluss war er allein mit der Panik - so ein Regionalexpress wie heute war da schon eine große Sache.
Wie man einigermaßen vorbehaltlos wieder in so ein innerlich lautes Transportmittel einsteigt,
hatte er dann noch zusammen mit einem Verhaltenstherapeuten herausgefunden.
"Man muss das einfach machen", sagte der Therapeut, glaubte daran und fuhr ein paar Runden Stadtbus mit ihm.
Und Schaluppke glaubteübte mit.
Mit der Zeit hatte er gelernt, dass er an sich selbst glauben musste.
Manche Menschen nennen das auch "Verantwortung übernehmen".
Und andererseits wollte er, obwohl der heilige Betriebsdruck am Schlagschrauber ja versagt hatte, die andere Glauberei nicht aufgeben.
Manchmal, wenn er sich abends auf sein Fahrrad setzte und ein paar Windräder besuchte, konnte er auch wieder etwas spüren.
Dann war es plötzlich ganz einfach, an den Wind zu glauben, den die Rotorblätter in der Abendsonne mit einem leisen Zischen durchschnitten.
Kannste nicht sehen, ist aber hier, dachte Schaluppke dann, während er die sonstigen Gedanken für einen Augenblick vergaß.
Und manchmal schien es, als hätte der Wind verstanden und würde nur für ihn die Drehzahl der weißen Riesen auf eine sehr schöne Art kurzfristig erhöhen.
Auch wenn Schaluppke immer noch nicht wusste, wie es weitergehen sollte - mit den Nachbarn, dem Rentenausweis, den er bald wieder ausheften müsste - so wollte er in diesen Momenten wieder daran glauben, dass es dort draussen einen Wind für seine Seele genau wie für diese Rotorblätter gab.
Und weil Horst Schaluppke auch ein Träumer war, suchte er ihn am liebsten am Meer.
Zwar war das mit dem Fahrrad nun etwas schwieriger zu erreichen, aber dafür gab es ja heute diesen RE18 Schrägstrich 2.
Der würde an jeder Milchkanne halten.
Jede davon wäre ein Stück weniger vom Meer entfernt, bis der Zug irgendwann genau dort ankommen würde.
Dann würde er aus dem Waggon steigen, die erste salzige Brise Dieselduft einatmen und anschließend auf den Deich klettern.
Dort wäre nichts, ausser dem Gefühl, endlich mal wieder ganz bei sich selbst zu sein.
Es dauerte nur vielleicht ein bisschen Mut. Nicht abgefüllt in Milchkannen.
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