„Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren …“
Detlev von Liliencron
Detlev von Liliencron
Heut bin ich über den Friedhof gefahren,
ich war da bestimmt nicht seit mehr als zehn Jahren.
Meerescruisenmann, Versmaß olé!
Ein bisschen ungewöhnlich mag es anmuten, wenn ein Mann im besten Alter mitten an einem Mittwochnachmittag zwischen Ruhestätten herumschlendert.
An seiner Hand nur ein klapperndes Fahrrad und mit suchendem Blick - auf der Suche nach Anne.
Anne ist vor zwei Wochen heimgegangen und ich konnte ihrem Begräbnis nicht beiwohnen, weil der Elektriker kam.
Jawoll, so weit ist es schon gekommen, dass die Handwerker einen fesseln und knebeln und entweder DANN kommen oder nie mehr wieder.
Ich gebe zu, dass ich mir auch unsicher war, ob ich auf Annes Begräbnis so ins Bild passen würde, zwischen all den bedeutenden alten und bedeutend älteren Nachbarn, aber ich hätte mich durchaus gerne von ihr persönlich verabschiedet.
Ging doch mit ihr auch ein Stück meiner Kindheit und meines Lebens fort, ein Mensch, der Zeit meines Lebens einfach nur da war, hinter einer Gardine sitzend die Vögel beobachtete und freien Blick auf mein Kinderzimmerfenster hatte.
Mit Bedenken erinnere ich mich, welchen Qualen sie wohl ausgesetzt war, als ich einmal euphorisch diese Tapetenrolle mit großen schwarzen Wasserfarb-Buchstaben beschriftete und aus meinem Fenster im 1. Stock herabflattern ließ:
D
A
V
I
D
H
A
S
S
E
L
H
O
...erster Stock zu kurz. Naja.
Wir hatten ja nix.
Und wehende Gardinen!
Mein Frischluftfanatikerfenster auf Kipp war für Wind und Wetter ein gefundenes Fressen, und so hatten auch Annes Fenster-Sessions einen Sinn, wenn ein Unwetter aufzog:
Ihr Anruf kam meist perfekt getimed, wenn meine Gardine schon klitschnass draussen an der Hauswand klebte.
...ja, ich war schon schwierig in meiner pubertären Phase.
Heutzutage bin ich jedoch verwegener.
Wer es wagt, an einem sonnigen Nachmittag im Frühling nur mit einem Fahrrad bewaffnet,
über einen Friedhof zu traben, der erinnert sich recht bald daran, wie es war, als pubertierender Pickelteenager angestarrt zu werden.
Zumindest, solange man nicht noch Eimer und Schippchen dabei hat.
Und eine oder mehrere Gießkannen, Heidekraut in kleinen Töpfchen und duften muss man.
Wahlweise nach Irish Moos (für die Oppas) und irgendwas zwischen 4711 und 8x4.
So Oma-Parfüm halt, ausm Supermarkt. Sie kennen das, die riechen alle gleich.
Ich nicht.
Deshalb fall ich vielleicht auch so auf, abgesehen vom abweichenden Altersdurchschnitt und dass nur mein Fahrrad klappert, noch jedoch nicht mein Gebiss, wenn ich die huckeligen Wege abschreite.
Lange Rede, kurzer Sinn:
Anne habe ich nicht wiedergefunden, muss mich da nochmal schlau machen, damit ich Lebewohl, pardon "Ruhewohl" sagen kann.
Aber, und das war dann doch mehr sentimental als lustig überraschend:
Die halbe Nachbarschaft versammelte sich Grab-technisch auf engem Radius, als wollte man für immer Gartennachbar bleiben, sich wie in alten Zeiten lustig mit dem Rasensprenger ärgern oder mal über den Zaun plaudern, wann denn wer als erstes seine Hecke schneiden wird und ob das Not tut, dass der Rasenmäher von Pankalla so laut ist!
Der Name von den Boltes lies mich noch sachlich nüchtern registrieren, dann wandte sich mein Blick und bums! Herta und Fritz.
Fritz kannte ich nicht mehr, da war ich 2 Jahre alt, als der hierhin "umgezogen" ist, aber Herta wackelte direkt vor meinen Augen durch ihren Gemüsegarten, mit Kopftuch und dumpfer Stimme, die sie gar ihrem Sohn vermachte.
Herta machte kurz vor Ostern immer Feuer in einer alten rostigen Tonne und auch sonst hatte sie die schlesische Wirtschaft voll drauf.
Einmal legte sie 50 Mark in einen Umschlag und schenkte mir den zu meiner Konfirmation.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser Vorgang etwas Beeinflussendes hatte.
Aber das ist eine andere Geschichte -
genau wie der goldene Ford Taunus.
Wenn es nebenan bollerte und röhrte, wurde selbst mir als kleinem Steppke unumstritten klar:
Herta fährt einkaufen.
Die Automatik schob sie rückwärts die 20 Meter lange Einfahrt herunter. Auf der Nebenbahn: Schnecken im Geschwindigkeitsrausch.
Damals wusste ich ja noch nicht, dass unter ihrer Haube in goldmetallic satte 90PS, verpackt in 6 Zylindern in Richtung Stadt aufbrechen wollten.
Wie bei Hänsel und Gretel hätte man die Spur von unverbranntem Benzin wohl bis vor den Supermarkt verfolgen können, denn der war nur zwei Kilometer entfernt und ließ den Taunus nur bis in die 90er röhren und stöhnen, dann sprang der komischerweise einfach nicht mehr an.
Tja, und bei Anne - wir erinnern uns - von gegenüber, sah das Ganze wohl ähnlich aus.
Bloß bugsierte die nur einen silbernen Ford Escort ebenso rückwärts ihre lange Einfahrt entlang. Geröhrt hat das auch, gebumst aber nie.
Dabei hatte ich doch hin und wieder gebannt beobachtet, wann ihre mehr oder weniger geschickt in der Einfahrt aufgestellte Mülltonne den nicht minder mehr oder weniger geschickten Lenkversuchen zum Opfer fallen würde.
Aber die Mülltonne war standhaft...und beschriftet von Heini. Das war mal Annes Mann.
Der hatte irgendwann vor 1986 da seine Initialen draufgemalt, die man bis heute lesen kann, weil Farbe damals eben noch so richtig schön giftig und unauslöschbar war.
Ja, und jetzt fährt Anne auch nicht mehr Escort, aber ihre Jalousie hängt auf Halbmast wie eh und je und auch die Tonne steht morgen sicherlich wieder an der Straße.
Und obwohl sich manche Dinge offenbar nie ändern, darf Anne jetzt endlich ihren Heini wiedersehen und tanzt mit ihm einen lang ersehnten Tanz.
Ich bin sicher, er hat sie schon erwartet, ihr einen gebührenden Empfang bereitet
und hoffentlich nicht nach seiner Mülltonne gefragt.
In Frieden, selig und endlich angekommen.
Jenseits der Regenbogenbrücke, wie jemand mal so schön kommentierte.
Danke, dass Du Dich immer an mich erinnert hast, auch wenn wir uns kaum noch gesehen haben, und meine Gardinen schon lange im nun leeren Kinderzimmer gänzlich trocken vor sich hin baumeln.
Herzlichst,
Dein
Mann.im.Meer