Dieser Blogpost wurde von mir ursprünglich für den Adventskalender 2015
einer gutsten Bloggerkollegin
geschrieben.
einer gutsten Bloggerkollegin
geschrieben.
Schaluppke und das Licht
Es wurde schon dunkel, als der dicke alte Mann unter der großen Lichterkette am Eingang des
kleinen Weihnachtsmarktes seiner noch kleineren Heimatstadt hindurchschritt.
Schaluppke hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und betrat langsam und mit schweren
Schritten das Kopfsteinpflaster, auf dem sich die vermufften Holzbuden säumten.
Wie gut, dass sich sein dicker brauner Mantel, für dessen Herstellung eine ganze Sippe sibirischer Schwarzbären ausgerottet worden sein musste, immer noch hervorragend an seinen schweren, unförmigen Körper anzuschmiegen vermochte.
Zufrieden bemerkte er die Vorzüge seiner Investition vom Winter '78, als er sich dieses wärmende Kleinod nach einem hervorragenden Geschäftsjahr gegönnt hatte.
Immerhin verdeckte es nun den Umstand, dass sein darunter befindliches Oberhemd
gute zwei Kleidergrößen zu eng war.
Lange hatte niemand mehr für ihn eingekauft.
Schaluppke war allein.
Zum ersten Mal war er allein.
Einsam und beinahe lautlos schoben sich seine klobigen Füße auf der holprigen Straße voran.
Langsam.
Es roch nach Lebkuchen; dann nach kandierten Äpfeln und all dem anderen süßen Zeug, mit dem man dem ein oder anderen Kind sein ganzes Taschengeld abluchsen konnte.
Schaluppke aber schaute nicht auf. Das hier war alles so alt und bekannt, dass er nichtmal
hinschauen musste.
Tannenzweige, Gedudel, Holz und Dampf – Dezember.
Dies war das erste Weihnachtsfest ohne seine Gertrud, die ihn im letzten Sommerurlaub für diesen gut bestückten Jamaikaner verlassen hatte.
„Ich bleibe bei Dingo“, hatte sie nur gesagt, als sie zwischen all den gepackten Koffern und Kisten im Hauptflur von Schaluppkes Villa auf die 23 Transport-Taxen zum Flughafen nach Port Lismeth gewartet hatte.
„Dingo“, dachte Schaluppke.
Und stellte sich vor, wie seine Frau an Heiligabend nicht wie gewohnt unter künstlicher Tanne an Eiche rustikal verbrachte, sondern am sonnigen Strand diese riesige Palme wedelte.
Er dagegen sollte sich wie immer knarrend in seinem Ledersessel niederlassen und dem
knisternden Plattenspieler lauschen, den seine Gertrud sonst Jahr für Jahr ganz sentimental mit der großen Mainzelmännchen-Weihnachts-Langspielplatte für sich einnahm.
Ein Ritual, das die alte Dame seit dem Auszug der Kinder unbeirrt fortzuführen pflegte.
Olle Schnepfe! Dieses Jahr hatte er die Gelegenheit, die fröhliche Kindermusik endlich durch einen anständigen Marsch zu ersetzen.
Bonbonduft riss Schaluppke jäh aus seinen Träumen.
Sonst sollte einfach alles so bleiben, wie jedes Jahr geschehen.
Diese roten fossilienartig geformten Glühweinklümpchen brachten ihn schlagartig auf den Boden der früheren Tatsachen zurück.
Vor einigen Tagen erst hatte er eine Reportage über ein altes hageres Männchen gesehen, das den lieben langen Tag nichts anderes tat, als eine rote, von Zucker geschwängerte Masse in antike Blechformen zu gießen und zu warten, bis sich die geheime Mixtur zu einem plombenziehenden Mehrkomponentenkleber verhärtet hatte.
Dann bestand der Rest des Männchen-Tages darin, jedes einzelne Bonbon von Hand aus der Form zu trennen.
„Armer Hund“, dachte Schaluppke, „der könnte sich ne Scheibe abschneiden vom Schaluppkeschen Unternehmergeist:
H.S. International Tabakwaren Import KG!“
Dabei formte sein Mund nur beinahe ein triumphales Lächeln.
Ausser der Villa und dem 1992er 300 SEL war ihm nicht viel von seinem Reichtum geblieben.
„Glühweinbonbons. Zwei Tüten!
Hier haste vier Mark!“
Der Bonbonverkäufer nickte gehorsam – Schaluppke machte immer noch eine stattliche Figur, das musste man ihm lassen. Er ließ die Bonbontüten in seinen Mantel wandern und schritt grußlos weiter.
Die Bonbons waren vermutlich der einzige Grund, der ihn alljährlich neben oder hinter seiner Frau an diesen Ort gelockt hatte.
Alles weitere Geschehen zwischen den sich aneinander reihenden
Buden und Ständen hatte sonst doch nur aufgrund der schrulligen Vorliebe seiner Gertrud
stattgefunden.
Hinter dem Bonbonstand folgte die gefürchtete Geschäftszeile. Einzelhandel.
Und jedes Jahr fanden sich die Schaluppkes genau an dieser Stelle bei Miederwaren Strunz ein, um diese angeblich so besonders edlen Strumpfhosen zu erwerben, die seine Frau über alles liebte.
„Häßlich braune Dinger“, raunte Schaluppke wie automatisch und beinahe hörbar trotzig vor sich her, als er das Schaufenster erblickte. Dann stellte er sich vor, wie seine Alte sich am ersten Weihnachtsfeiertag traditionell in die viel zu engen Nylons quetschte und juchzend aus dem Schlafzimmer grüßte.
Den Besuch konnte er sich diesmal sparen.
Der Unternehmer im Ruhestand sparte genau 143 Mark und 50 Pfennig.
Da konnte er gut und gerne auf diese undankbare Frau verzichten, die ohnehin jedes Jahr mit denselben kleinen blauen Pillen als Geschenk unterm Christbaum aufzuwarten pflegte.
Schaluppke konnte schon die Farbe nicht ausstehen.
Ein frisches blau passte nicht in seine Welt aus Ocker und verrauchten Tabaktönen.
Zum Glück war es ihm immer gelungen, die geschenkten Presslinge unentdeckt aus ihrer
Verpackung zu pfriemeln und dem treuen Familiendackel sukzessive in den Napf zu bugsieren.
Beinahe eine ganze Dekade lang hatte das hervorragend funktioniert.
Dann wurde der Dackel zu alt für solche Spielchen und musste erlöst werden – sein fünftes Bein starr in die Luft gereckt, so wie man ihn seit Schaluppkes gütiger Zugabe lange Jahre kannte.
Schaluppke schaute auf. Der Duft von gebratenen Pilzen verriet ihm erfahrungsgemäß, dass er sich bereits am Ende dieser eigentlich sehr gemütlichen Veranstaltung befand.
Gemütlichkeit jedoch konnte er schon lange nicht mehr empfinden.
Leere und Gewohnheit waren die Säulen seines Alltags, Kalkül.
Zur Vollendung seines Plans oder des Plans, den seine Gertrud ihm über die Jahrzehnte irgendwo hinter der Hirnrinde eingebrannt hatte, fehlte nur noch dieser Kranz.
Schaluppke wusste genau, dass er dafür nur einen Schritt über die Schwelle von
Blumen Bittner zu machen brauchte. Jener Laden, in dem seine Frau zur Krönung meist nicht unter einer Stunde verweilte.
Etwas zerzaust und vertrocknet standen die Adventskränze genau vor seinen Füßen.
Immerhin fand sich dort auch nach dem 4. Advent noch ein Exemplar.
Er grüßte nicht, deutete bestimmt auf ein lieblos zusammengestecktes Gebilde, ließ
die etwas ehrfürchtig agierende Jungverkäuferin hastig einpacken und machte sich dann
mit dem knisterden, nadelnden Etwas nun strammeren Schrittes auf zu seinem Wagen.
Der Mercedes roch wie immer, es war Schaluppkes eigener Duft aus Zigarrenqualm und altem Leder.
Sanft schaukelte die schwere Limousine ihn durch die verschwenderisch hell erleuchteten
Straßen, der alte Mann war allein.
Hinter den Fenstern der Häuser mochten so viel Zweisamkeit und Familientreiben herrschen, dass es Schaluppke für wenige Sekunden aus seiner inneren Kälte riss.
Um dem Schmerz Herr zu werden, schloss er rasch die Augen.
Dann war da nur noch das eintönige Geräusch des 6-Zylinders unter der langen Motorhaube - alles wie immer.
Dunkel erwartete ihn die alte Villa.
Dort angekommen musste er nur das Automatik-Tor seiner Garage betätigen, dann sich und seinen Mantel samt Bonbons und Kranz aus dem Wagen hieven und durch die schwere Verbindungstür den großen Hausflur betreten.
Er erwartete nichts, und niemand erwartete ihn.
Das Haus empfing ihn dennoch mit wohliger Wärme.
Schaluppke hatte den gemauerten Kamin im Wohnzimmer vor seiner Abfahrt mit ausreichend Holzscheiten bestückt, immer noch glimmte und knisterte es dort.
Das Papier, aus dem er den reichlich nadelnden Adventskranz befreite, eignete sich hervorragend, um das Feuer nochmals zu entfachen.
Der alte Mann stellte den Kranz auf den wuchtigen Wohnzimmertisch, entzündete Kerze für Kerze sorgfältig und legte das letzte verbliebene Stück Holz nach, bevor er sich in seinen alten Ledersessel niederlassen wollte.
Sein Blick fiel auf den Plattenspieler, er brauchte ihn nur anzuschalten und den Arm auf die
Schallplatte zu legen, schon knisterte und knarzte es in den Lautsprechern.
Schaluppke huschte beinahe ein Lächeln über das Gesicht, als er samt Mantel in den Sessel hinabglitt, fast hätte man ihm Zufriedenheit zugetraut, fast war Alles wie immer.
Ein Griff in die Manteltasche und seine alten, dicken Finger zauberten ein dunkelrotes Bonbon hervor.
Es funkelte herrlich im Schein der Kerzen, während die Mainzelmännchen
„Oh du Fröhliche“ sangen.
Schaluppke schloss die Augen, legte das Bonbon langsam auf seine Zunge.
Ihm wurde warm ums Herz – so warm und hell wie schon seit Jahren nicht mehr.
Er hörte das Knistern des Feuers, spürte die Wärme der Kerzen...
dann schlief er ein.
Es war Horst Schaluppkes letztes Weihnachtsfest.
~
Ich wünsche Ihnen/Euch allen ein FROHES WEIHNACHTSFEST!
...und ja, ich habe schon einen Baum ;-)
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